Volkslieder für Chöre

Tirol ist eines der reichsten Länder was seine überlieferte Volksmusiktradition betrifft. Nahezu kein anderes Land hat eine solche Dichte und Fülle der Überlieferung, die von Forschern in engagierter Arbeit seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf Papier oder Tonträgern dokumentiert und erhalten wurde. Am Beginn dieser vor allem konservatorischen Bestrebungen stand Franz Friedrich Kohl, der erstmals in begeisternder und systematischer Kontinuität den in der Regel mündlich überlieferten Volksgesang aufgezeichnet und in repräsentativer Auswahl publiziert hat.
Franz Friedrich Kohl, der 1851 in St. Valentin auf der Haide im obersten Vinschgau geboren wurde, war im Hauptberuf Naturwissenschaftler und hatte als Zoologe und Kustos am Naturhistorischen Museum in Wien in Fachkreisen Weltruf erlangt. In den Sommermonaten galt sein Bemühen allerdings der Aufzeichnung und Erhaltung der Volkslieder seiner Tiroler Heimat. Im Volkslied sah Kohl mehr als lediglich ein liebevolles Musikstück, das Volkslied war im ureigenster klingender Ausdruck und Abdruck seiner Heimat und gehörte wie die Berge und die Charaktereigenschaften seiner Landsleute zur fundamentalen Seelenlandschaft Tirols. Er unterschied dabei streng zwischen dem "echten", das wie die Bauweise und Tracht ganz unverwechselbare Eigenschaften und Gestaltung aufwies und zwischen dem gemachten, nachgeäfften, geschäftsorientierten vermeintlichen, wie es vielfach von den Gesellschaften der Tiroler Nationalsänger europaweit bekanntgemacht wurde. Viele dieser Produkte vermochten mit ihrer suggestiv wirksamen Popularität natürlich auch auf den traditionellen Volksgesang Einfluss zu nehmen und der Ansicht Kohls zufolge auch zu verderben. Da Kohl in seinen Jugendjahren noch die Kraft und Originalität des ursprünglichen Volksgesangs aktiv erfahren hatte, sah er die drohende Gefahr umso mächtiger und bestärkte seine Unternehmungen. Seine in jahrzehntelanger Forschungsarbeit gewonnene Sammlung "echter" Volkslieder sollte durch die Kraft der bodenständigen Originalität ein Bollwerk gegen die lasziven Einflüsse vieler der Nationalsängerlieder und städtischen Bänkelsängertraditionen sein. So hat er im Jahr 1899 den ersten Band, seiner "Echten Tiroler Lieder" bezeichnenderweise im Selbstverlag auf eigenes finanzielles Risiko herausgebracht. Allein dieser großartigen und uneigennützigen Tat ist es zuzuschreiben, dass Tirol ein unvergleichliches Denkmal seiner musikalischen Volkskultur erhalten geblieben ist und nun auf Dauer zur Verfügung steht. Dieser erste Band enthielt 219 Lieder. In den folgenden Jahren hat Kohl seine Sammelarbeit fortgesetzt und noch drei Ergänzungshefte, sogenannte "Nachlesen" herausgebracht. Die Summe seines Lebenswerkes auf musikalischem Gebiet bildet dann schließlich die große zweibändige Neuausgabe der "Echten Tiroler Lieder" in den Jahren 1913 (1. Band) und 1915 (2. Band).
Franz Friedrich Kohl sah als einen Hort für das Fortleben des Volksliedes vor allem auch durch die zahlreichen Chorvereinigungen gegeben. So hat er eine Vielzahl der Volkslieder, die ihm in der Regeln vermutlich in ein- oder zweistimmiger Fassung ursprünglich vermittel wurden, in seinen Druckwerken im Chorsatz publiziert. Er ist dabei mit höchster Sorgfalt zu Werke gegangen, sowohl was die Auswahl seiner Mitarbeiter betrifft, als auch die Stilistik der Bearbeitungen an sich. Als Bearbeiter der Quellen hat er natürlich Kenner des Volksgesang, die zugleich theoriekundige Musiker waren, bevorzugt, so den Komponisten Josef Reiter, der seine besondere Wertschätzung genoss, sowie Karl Liebleitner, Chormeister des deutschen Volksgesangsvereins in Wien, Franz Worresch, Leiter des Währinger Kirchenmusikvereins und nicht zuletzt Vinzenz Lavogler, Gymnasialprofessor in Innsbruck , der mit seinen schlichten Sätzen dem Ideal einer Volksliedbearbeitung wohl am nächsten kam. Zur Stilistik einer sachgerechten Bearbeitung eines vierstimmigen Volksliedsatzes führt Kohl folgende Grundsätze an: "Die beiden Oberstimmen sollen, soweit es angeht, so bleiben, wie sie das Volk zweistimmig singt; die Bewegung erfolgt vorwiegend in Terzen. Der zweite Bass bedient sich keiner anderen Intervalle als der Dominante und der Tonika und nur in Ausnahmefällen der Subdominante.
Der Tenor (beziehungsweise 1. Bass) singt keine figurierte Stimme, sondern hält sich, so gut es eben tunlich ist, auf einer Tonhöhe, meistens der Dominante; man sagt im Volke: Er singt den G'radn", den "Aushalter". Von den Umkehrungen des Dreiklanges wird in Tirol nur der Quartsextakkord auf der 5. Stufe gesungen; der Dominant-Septakkord kommt nur in der Grundstellung und nicht in einer Umkehrung vor.
Für die Harmonisierung wird fast stets nur die enge Lage verwendet; der weiten (zerstreuten) begegnet man im Tirolerlande nur ausnahmsweise und zufällig".
Zur Interpretation gibt Kohl noch folgende Hinweise: "Das Auftreten und mitunter sogar Vorherrschen der Kopfstimmlage bei den Almgesängen und ganz besonders beim Tiroler Volksliede erfordert eine ganz andere Verwendung der Stimmen und Eintheilung der Sängerschaft, als die bei Liedertafelwerken übliche. Da die hohen Töne mit Fistelstimme gesungen werden müssen, so sind für die oberste Stimme solche Sänger zu wählen, die über ein weiches, hohes Falsett verfügen. Ein solches ist meist den Baritonstimmen eigen, während Tenöre mit hoher Bruststimmlage oft eines Falsetts entbehren und dann beim Almliede in der obersten Stimme fast keine Verwendung finden können. Das Bei den Gesangsvereinen so sehr üblichen Glänzenwollen mit hohen Brusttönen ist beim Tirolerliede unmöglich und unnatürlich. Die 2. Stimme (2. Tenor) ist im Alpenliede sehr oft die Trägering der Melodie und soll vorherrschen; in diesem Falle wird sie am besten von kräftigen Baritonen mit höherer Bruststimmlage, die auch über einige Fisteltöne verfügen, gesungen. Hohe Töne des 1. Basses (e-a) sollen in der Regel ebenfalls mit Falsettstimme gebracht werden. Das Tirolerlied ist anspruchslos und schlicht. Einfachheit und natürliche Frische bilden den Reiz des Tirolerliedes.
Die Ansicht, dass sich die Tirolergesänge nur für den Einzelviergesang, nicht aber für den Vollgesang eignen, ist im Ganzen eine irrige. Man ist in Tirol gewohnt, die Volkssängergesellschaften Tirolerlieder stets im Einzel-Viergesang singen zu hören. Der Deutsche Volksgesangverein in Wien singt die meisten Almlieder im Chore und zwar mit größtem Erfolge. Damit ist jedoch nicht behauptet, dass sich nicht manches Tirolerlied besser als im Vollgesang für den Einzel-Viergesang, oder für eine ein- oder zweistimmige Aufführung eignet."

Die Idee zu dieser Auswahl aus Franz Friedrich Kohl Sammlungen stammt aus den frühen 90er Jahren. Damals war ich vor allem damit beschäftigt, meinen zahlreichen Aufzeichnungen auf den Gebiet des geistlichen Volksgesang, die ich in Südtirol gemacht hatte, mit speziellen Liedpräsentationen eine neue Bestimmung zu geben. So entstanden mit dem Liedgut Südtiroler Kirchensingen die Projekte Tiroler Weihnachtssingen und Tiroler Passions-und Ostersingen mit Liederheften und Aufführungen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum mit begleitender CD-Produktion. Bei diesen Projekten waren zumeist auch Tiroler Chöre eingeladen. Da die Eigenheiten dieses Liedguts im Zuge der Einstudierung vielfach erklärt werden mussten, habe ich bei vielen Proben teilgenommen. Nach der Probenarbeit ist es sehr oft vorgekommen, dass die Chormitglieder befreit von der Probensituation spontan ein Volkslied angestimmt haben, vermutlich auch um ihre wahren Qualtäten aufzeigen zu können. Dabei wurde zumeist ein Kärntnerlied zum Besten gegeben. Tiroler-Lieder, wie sie in der Sammlung Kohl so ideal auch für Chöre repräsentiert sind, waren kaum bekannt und so ist in mir schon damals die Notwendigkeit klar geworden, den zahlreichen Chören Tirols in geeigneter und zeitgemäßer Form eine Tiroler Liedersammlung aus dem einzigartigen Repertoire dieser Quellen zur Verfügung zu stellen. Aufgrund zahlreicher Verpflichtungen über all die Jahre musste die Idee immer wieder aufgeschoben werden um anderen dringenden Projekten den Vorzug einzuräumen, was aber auch den Vorteil einbrachte, dass nun eine Präsentation mit den aktuellsten technischen Einrichtungen möglich wurde. So wurde diese Liedauswahl nicht mehr - wie ursprünglich vorgesehen - in Form eines gedruckten Liederheftes publiziert, sondern im Internet veröffentlicht. Jeder Interessent kann sich so sein gewünschtes Lied aussuchen, im Computersound anhören, herunterladen und für die übrigen Chormitglieder vervielfältigen. Damit ist insbesondere für die Tiroler Chöre, aber auch für alle anderen Benützer das erste Internetchorliederbuch Tirols verfügbar und wir glauben, dass wir damit zudem der ursprünglichen Intention der großartigen Erschließungsarbeit durch Franz Friedrich Kohl mit aktuellen technischen Mitteln und der bleibenden Anerkennung und Wertschätzung seines Werks dienen.

Manfred Schneider